Lektüre: Grundlagen der NPV-Regel
5. Fragen bei der Umsetzung
Nicht zuletzt müssen wir bei der Anwendung der NPV-Regel auch auf die so genannten "Externalitäten" achten. Wie wir im Modul Projektbewertung näher erläutern, geht der Standard-NPV-Ansatz bei der Cashflow-Schätzung davon aus, dass alle relevanten Interessengruppen (Stakeholder) berücksichtigt werden und eine faire Entschädigung erhalten haben. Die Cashflows, die alsdann mit der passenden risikoadjustierten Rendite kapitalisiert werden, widerspiegeln folglich, wie viel Geld das Unternehmen für seine Investoren generiert, nachdem alle eingesetzten Ressourcen fair entschädigt wurden. Zum Beispiel:
- Die nötigen Investitionen wurden getätigt;
- Die Lieferanten wurden bezahlt;
- Die Mitarbeitenden haben einen fairen Lohn erhalten;
- Die Steuern wurden bezahlt;
- etc.
Da alle anderen Beteiligten ihren gerechten Lohn erhalten haben, gehört der Rest den Investoren. Aus diesem Grund spricht man oft von einem Residual-Anspruch der Aktionäre. Durch die Verfolgung einer Strategie, die den NPV maximiert, stellen wir sicher, dass alle Interessengruppen weiterhin ihre gerechte Entschädigung erhalten und die Aktionäre ihren Residual-Anspruch maximieren. Eine solche Strategie dürfte zu einer effizienteren Ressourcenallokation beitragen und damit den gesellschaftlichen Wohlstand erhöhen. Dies ist, kurz gesagt, das neoklassische Argument für die "Maximierung des Shareholder Value".
Leider ist es in der Realität nicht so einfach. Zwei der grössten Herausforderungen bei der Umsetzung bestehen darin, dass es nicht immer einfach ist, die "relevanten Interessengruppen" zu ermitteln, und dass es oft nicht klar ist, was eine "gerechte" Entschädigung ist. Zur Veranschaulichung dieses Punktes wollen wir einige Beispiele anführen:
- Nehmen wir eine alleinerziehende Mutter, die in einem Ort mit nur einem großen Arbeitgeber lebt. Sie könnte so abhängig von ihrem Job sein, dass der Arbeitgeber sie unter Druck setzen könnte, ein Gehalt zu akzeptieren, das weit unter dem liegt, was aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung als "fair" angesehen würde. Indem man ihr Gehalt drückt, erhöht sich der Restanspruch der Aktionäre, und technisch gesehen könnte der Kapitalwert (zumindest kurzfristig) steigen. Eine solche Strategie, die bestimmte Gruppen von Stakeholdern "ausbeutet" und den Reichtum an die Aktionäre umverteilt, ist eindeutig NICHT das, was wir im Sinn haben, wenn wir die NPV-Regel befürworten.
- Und dann gibt es noch Interessengruppen, die oft kein Mitspracherecht haben, allen voran die Umwelt. Bei den üblichen Kapitalwertberechnungen werden Umweltbelange in der Regel einfach deshalb unterschätzt, weil es keinen verbindlichen Marktpreis für Umweltverschmutzung und andere Nebenwirkungen auf die Umwelt gibt. Nehmen wir den Fall eines Taxiunternehmens. Bei der Entscheidung über die Anschaffung von Fahrzeugen könnte die Wahl zwischen Elektroautos und Fahrzeugen mit herkömmlichen Dieselmotoren fallen. Wie kann man der Tatsache Rechnung tragen, dass Elektroautos einen viel geringeren CO2-Ausstoss haben? Obwohl sich fast alle einig sind, dass CO2-Emissionen schlecht für die Umwelt sind, gibt es keine verbindlichen generellen Vorschriften, die die Unternehmen zwingen, direkt für diese Emissionen zu zahlen. Daher fliessen sie in der Regel nicht in standardmäßige Kapitalwertberechnungen ein.
Angesichts solcher Marktunvollkommenheiten ist es nicht mehr klar, dass die NPV-Regel zu einer Investitionspolitik führt, die alle Beteiligten fair behandelt und den Aktionären eine angemessene Rendite ermöglicht. Daraus folgt, dass Manager in fast allen Situationen davon absehen sollten, die NPV-Regel blindlings zu befolgen. Stattdessen sollten sie anerkennen, dass bei der standardmäßigen NPV-Berechnung häufig wichtige nichtfinanzielle Aspekte eines Projekts außer Acht gelassen werden (oder zumindest unzureichend berücksichtigt werden). Diese Aspekte sollten für den Entscheidungsträger transparent gemacht werden, damit sie in den Entscheidungsprozess einbezogen werden können. Da für diesen Teil der Analyse häufig keine Marktpreise vorliegen, handelt es sich dabei aber im Allgemeinen eher um eine "Kunst" als um eine "Wissenschaft".
Um diese Herausforderung zu bewältigen, könnten Projektmanager einen zweistufigen Ansatz verfolgen:
- In einem ersten Schritt wird die finanzielle Wirtschaftlichkeit des Projekts in einem NPV-Rahmen wie oben beschrieben zu Marktwerten dargestellt.
In einem zweiten Schritt wird aufgezeigt, wie das Projekt zu Dimensionen und Zielen beiträgt, die sich nicht rein finanziell ausdrücken lassen. Beispielsweise könnte man die 17 von den Vereinten Nationen vorgeschlagenen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) heranziehen und erörtern, warum und wie das Projekt einen positiven Einfluss auf diese Ziele hat.
Bei den SDG handelt es sich um breit formulierte globale Ziele, die sich mit den wichtigsten Herausforderungen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Governance (ESG) befassen:
Ein solcher zweistufiger Ansatz trägt zu einem besseren Verständnis und zur Transparenz der potenziellen Quellen des finanziellen und nichtfinanziellen Mehrwerts des Projekts bei. Er wird im Modul "Projekt Cashflows" ausführlicher präsentiert.